- Broschiert: 304 Seiten
- Verlag: transcript; Auflage: 1., Aufl. (29. April 2015)
- Sprache: Deutsch
Endlich habe ich es geschafft die
Dissertation von Patrick Helber (Dr. phil) zu lesen. Helber ist selbst aktiv mit
seinem eigenen Soundsystem und auch einer monatlichen Radiosendung in der
Reggaeszene involviert. Er beschäftigt sich nicht nur wissenschaftlich mit der
Materie, sondern ist auch ein Fan der Musik. Ähnliches gilt für mich mit einer
langen aktiven Phase in diversen kleinen lokalen Sounds, nur war meine
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dancehall auf eine Hausarbeit im
Rahmen eines ethnologischen Seminars beschränkt. Es mag sein, daß der Titel und
Inhalt des Buches für viele eher veraltet wirkt, da die Reggaeszene im
Gegensatz zu früher um die Jahrtausendwende, kaum noch negativ medial auffällt,
bis auf einige Ausnahmen hier und da. Was nicht bedeutet, dass die Homophobie
überwunden wäre? Marktstrategische Entscheidungen aufgrund internationalen
Drucks von Seiten der LGBT-Gemeinde auf europäische Politik führten definitiv
zu einem Umdenken vieler Dancehall-DJs, denn ihre Existenzgrundlage (bzw.
Anhäufung eines größeren Kapitals durch internationale Touren) schien
gefährdet. Helber beschreibt eine Chronologie der Entwicklung der „größer
werdenden“ Homophobie und die Reaktionen der hiesigen Medien und diversen
Menschenrechtsgruppierungen darauf. Ein Diskurs, der von beiden Seiten
emotional und voller falscher Unterstellungen und Anfeindungen, ausgetragen
wurde und bei dem es nicht wirklich Gewinner gab.
Die Dissertation könnte/dürfte
viele DJs, Soundsystems und Jamaikaenthusiasten interessieren, die in der Zeit
zwischen 1998-2010 aktiv waren oder einfach nur dort Urlaub gemacht haben, denn
das war als die „Hoch“-zeit der Auseinandersetzung, die mit dem Song von Buju
Banton „Boom Bye bye“ losgetreten wurde. Inhaltlich werden nicht wirklich viele
neue Aspekte angeschnitten; dennoch waren die einen oder anderen Punkte mir
nicht bekannt, aber ich habe mich noch nie bis ins kleinste Detail mit der
Materie auseinandergesetzt, obwohl ich die Diskussion in den Medien und
Internetforen verfolgt habe. Für neue Reggaeheads bietet das Buch eine
interessante Geschichtsstunde, nicht nur über Jamaika und dessen
Kolonialsierungsprozess, sondern auch wie die internationale Presse
exotisierende Klischees benutzte, um ein gewisses Bild der „Primitiven“ in den
Ex-Kolonien zu präsentieren; der Jamaikaner in Analogie zu Caliban aus
Shakespeares „Der Sturm“ oder, um bei akademischen Begriffen zu bleiben „Othering“.
„Postkoloniale Perspektiven auf
die Geschichte und Kultur Jamaikas“ ist der Untertitel des Buchs, denn neben
der Auseinandersetzung mit Homophobie und die mediale Darstellung der
Problematik außerhalb von Jamaikas, beschreibt das Buch die Geschichte Jamaikas
von der Kolonialisierung der Insel, über die Unabhängigkeit bis hin zu den
Diasporagemeinschaften und wie Jamaikaner ihre Dancehall-Kultur als Teil ihrer nationalen
Identität ausleben. Soziologische und kulturwissenschaftliche Denker wie Stuart
Hall, Homi Bhabha, Bourdieu und viele weitere werden angeschnitten, um das
Thema von transnationalen Identitäten, Austauschprozesse zwischen Kulturen und
imaginierten Gemeinschaften zu beschreiben. Des Weiteren erfahren wir viel über
die theoretischen Grundlagen des Genderdiskurses, die im Kontext der
postmodernen Wende innerhalb der Akademien entstand, mit ausführlichen Analysen
zu Judith Butlers Theorien und Erklärungen ihrer Ideen, die bis heute die Basis
der Gender Studies darstellen, bevor das letzte große Kapitel, die den Diskurs
der medialen Kontroverse und die Inhalte verschiedener Dancehalllyrics,
eingeleitet wird.
Das Buch bleibt eine
Dissertation, deshalb der akademische Überbau und die dementsprechende Sprache,
weshalb die Sprache des Autors für einige vielleicht abschreckend erscheinen
mag; Helber bemüht sich dennoch einfache Erklärungen für die diversen
theoretischen Ansätze abzuliefern, dadurch ist „Dancehall und Homophobie“ für
eine breite Leserschaft zugänglich. Nicht zu trocken, nicht zu kompliziert,
vielleicht an einigen Stellen zu simplifizierend bei den Erklärungen,
beschreibt Helber eingänglich die Chronologie des Diskurses. Ein unangenehmer
Diskurs, bei dem ein großer Teil der internationalen Reggae- und Dancehallszene
sich nicht positionierte und gerne die Problematik unter den Tisch gekehrt
hätte. Die letzte Frage, die sich mir aufwirft bleibt, wie setzen wir
Menschenrechte, die universal gelten sollten um, ohne aktiv und belehrend aus
einer Kolonialistenposition eingreifen zu müssen. Mit relativistischen Ansätzen
wurde und wird niemanden geholfen. Vielleicht kann „Dancehall und Homophobie“
als Diskussions- und Ideenanreger dabei helfen. Bis jetzt ist das Werk nur auf
Deutsch veröffentlicht worden, obwohl es für den englischsprachigen Kulturraum
mit den karibischen Diasporagemeinden und den dazugehörigen aktiven Soundsystem
sehr interessant wäre. Und welchen Einfluss es auf die Debatte üben würde, denn
die Problematik der Homophobie ist noch nicht obsolet, sondern einfach nur
nicht mehr präsent.
http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3109-8/dancehall-und-homophobie
http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3109-8/dancehall-und-homophobie
Ein Bericht auf 3-SAT zum Thema des Reviews:
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