Donnerstag, 10. März 2016

Book Review: "Dancehall und Homophobie" - Patrick Helber




  • Broschiert: 304 Seiten
  • Verlag: transcript; Auflage: 1., Aufl. (29. April 2015)
  • Sprache: Deutsch


Endlich habe ich es geschafft die Dissertation von Patrick Helber (Dr. phil) zu lesen. Helber ist selbst aktiv mit seinem eigenen Soundsystem und auch einer monatlichen Radiosendung in der Reggaeszene involviert. Er beschäftigt sich nicht nur wissenschaftlich mit der Materie, sondern ist auch ein Fan der Musik. Ähnliches gilt für mich mit einer langen aktiven Phase in diversen kleinen lokalen Sounds, nur war meine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dancehall auf eine Hausarbeit im Rahmen eines ethnologischen Seminars beschränkt. Es mag sein, daß der Titel und Inhalt des Buches für viele eher veraltet wirkt, da die Reggaeszene im Gegensatz zu früher um die Jahrtausendwende, kaum noch negativ medial auffällt, bis auf einige Ausnahmen hier und da. Was nicht bedeutet, dass die Homophobie überwunden wäre? Marktstrategische Entscheidungen aufgrund internationalen Drucks von Seiten der LGBT-Gemeinde auf europäische Politik führten definitiv zu einem Umdenken vieler Dancehall-DJs, denn ihre Existenzgrundlage (bzw. Anhäufung eines größeren Kapitals durch internationale Touren) schien gefährdet. Helber beschreibt eine Chronologie der Entwicklung der „größer werdenden“ Homophobie und die Reaktionen der hiesigen Medien und diversen Menschenrechtsgruppierungen darauf. Ein Diskurs, der von beiden Seiten emotional und voller falscher Unterstellungen und Anfeindungen, ausgetragen wurde und bei dem es nicht wirklich Gewinner gab.
Die Dissertation könnte/dürfte viele DJs, Soundsystems und Jamaikaenthusiasten interessieren, die in der Zeit zwischen 1998-2010 aktiv waren oder einfach nur dort Urlaub gemacht haben, denn das war als die „Hoch“-zeit der Auseinandersetzung, die mit dem Song von Buju Banton „Boom Bye bye“ losgetreten wurde. Inhaltlich werden nicht wirklich viele neue Aspekte angeschnitten; dennoch waren die einen oder anderen Punkte mir nicht bekannt, aber ich habe mich noch nie bis ins kleinste Detail mit der Materie auseinandergesetzt, obwohl ich die Diskussion in den Medien und Internetforen verfolgt habe. Für neue Reggaeheads bietet das Buch eine interessante Geschichtsstunde, nicht nur über Jamaika und dessen Kolonialsierungsprozess, sondern auch wie die internationale Presse exotisierende Klischees benutzte, um ein gewisses Bild der „Primitiven“ in den Ex-Kolonien zu präsentieren; der Jamaikaner in Analogie zu Caliban aus Shakespeares „Der Sturm“ oder, um bei akademischen Begriffen zu bleiben „Othering“.  
„Postkoloniale Perspektiven auf die Geschichte und Kultur Jamaikas“ ist der Untertitel des Buchs, denn neben der Auseinandersetzung mit Homophobie und die mediale Darstellung der Problematik außerhalb von Jamaikas, beschreibt das Buch die Geschichte Jamaikas von der Kolonialisierung der Insel, über die Unabhängigkeit bis hin zu den Diasporagemeinschaften und wie Jamaikaner ihre Dancehall-Kultur als Teil ihrer nationalen Identität ausleben. Soziologische und kulturwissenschaftliche Denker wie Stuart Hall, Homi Bhabha, Bourdieu und viele weitere werden angeschnitten, um das Thema von transnationalen Identitäten, Austauschprozesse zwischen Kulturen und imaginierten Gemeinschaften zu beschreiben. Des Weiteren erfahren wir viel über die theoretischen Grundlagen des Genderdiskurses, die im Kontext der postmodernen Wende innerhalb der Akademien entstand, mit ausführlichen Analysen zu Judith Butlers Theorien und Erklärungen ihrer Ideen, die bis heute die Basis der Gender Studies darstellen, bevor das letzte große Kapitel, die den Diskurs der medialen Kontroverse und die Inhalte verschiedener Dancehalllyrics, eingeleitet wird.
Das Buch bleibt eine Dissertation, deshalb der akademische Überbau und die dementsprechende Sprache, weshalb die Sprache des Autors für einige vielleicht abschreckend erscheinen mag; Helber bemüht sich dennoch einfache Erklärungen für die diversen theoretischen Ansätze abzuliefern, dadurch ist „Dancehall und Homophobie“ für eine breite Leserschaft zugänglich. Nicht zu trocken, nicht zu kompliziert, vielleicht an einigen Stellen zu simplifizierend bei den Erklärungen, beschreibt Helber eingänglich die Chronologie des Diskurses. Ein unangenehmer Diskurs, bei dem ein großer Teil der internationalen Reggae- und Dancehallszene sich nicht positionierte und gerne die Problematik unter den Tisch gekehrt hätte. Die letzte Frage, die sich mir aufwirft bleibt, wie setzen wir Menschenrechte, die universal gelten sollten um, ohne aktiv und belehrend aus einer Kolonialistenposition eingreifen zu müssen. Mit relativistischen Ansätzen wurde und wird niemanden geholfen. Vielleicht kann „Dancehall und Homophobie“ als Diskussions- und Ideenanreger dabei helfen. Bis jetzt ist das Werk nur auf Deutsch veröffentlicht worden, obwohl es für den englischsprachigen Kulturraum mit den karibischen Diasporagemeinden und den dazugehörigen aktiven Soundsystem sehr interessant wäre. Und welchen Einfluss es auf die Debatte üben würde, denn die Problematik der Homophobie ist noch nicht obsolet, sondern einfach nur nicht mehr präsent.

 http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3109-8/dancehall-und-homophobie

1 Kommentar:

  1. Ein Bericht auf 3-SAT zum Thema des Reviews:

    http://www.dailymotion.com/video/x3tuhkf

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